Mit freundlicher Genehmigung des Autors:


"Verreckende Gegenwart" und "Befreite Realität
Der Entwurf einer anderen Literatur in Rolf Dieter Brinkmanns Collage-Bänden

von

Klaus Pocher

 

Magisterarbeit

Technische Universität Berlin


eingereicht beim
Institut für Deutsche Philologie,
Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Prof. Dr. Reinhard Baumgart



Berlin, den 20. April 1998

 

Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung

1. Sinn und Sinnlichkeit

1.1. Das "Material" der Gegenwart 4

1.2. Zu viele Wörter und Bilder - Die Verstümmelung der Sinne 6

1.3. Die alte "neue Sensibilität"? 11

1.4. Erkundungen des Bewußtseins 16

2. Verschwinden und Wiederkehr des Körpers

2.1. Die Verstümmelung des Körpers 19

2.2. Die physische Befreiung 26

2.3. Körpertypographie 30

2.4. Befreite Sexualität 33

3. Die sekundäre Realität

3.1. "Das Bild des Bildes des Bildes der Wirklichkeit" 37

3.2. Die stellvertretende Erfahrung 46

3.3. Das ferngesteuerte Individuum 49

3.4. Raum und Zeit - die tote Gegenwart 57

4. Gewalt und Zärtlichkeit

4.1. Pornographie 63

4.2. Vulgärsprache und "Blumensprache" 68

4.3. Haß und Zärtlichkeit 71

4.4. Frauen und Männer 75

5. Aussichten des Romans

5.1. "Der Roman, an dem ich gar nicht schreiben möchte" 78

5.2. Formaspekte 83

Erkundungen 84

Rom, Blicke 86

Schnitte 89

Die sinnliche Sprache 92

5.3. Schreiben und Leben 94

Literaturverzeichnis 99

 

Einleitung

Revolutionieren wollte Rolf Dieter Brinkmann die Literatur von Anfang an. Bereits die 1962 erschienene Erzählung In der Grube hatte er "nicht als Erzählung im konventionellen Sinn konzipiert."1 Anstelle einer "Fabel" versuchte er, "mit Assoziationen, mit Bildern und Wortreihen [...] die wechselseitige Durchdringung von Bewußtsein und passiver Aufnahme, von Gegenwart und Erinnerung"2 deutlich zu machen. Auch seine frühen Gedichte suchen in der intensiven Auseinandersetzung mit der "vorhandenen Sprache" (Standphotos S.17) nach einer sinnlicheren Ausdrucksform für die Gegenwart, indem sie "nur das an Material aufnehmen [...], was wirklich alltäglich abfällt." (Notiz. In: Standphotos S.185) Im Laufe dieser Suche macht er Bekanntschaft mit der "Neuen amerikanischen Szene"3, in der er zu finden glaubt, was seiner bis dahin vagen Vorstellung von einer anderen, taktilen Literatur entspricht. In den Essays und Kritiken, die zwischen 1968 bis 1970 entstehen, verdichtet sich seine euphorische USA-Pop-Affinität zur "Poetologie", die fortan die Grundlage für Gedichte und vor allem für seinen geplanten zweiten Roman bildet. Gleichsam als Konzept und Übungsfeld legt er nach und nach verschiedene "Material-Hefte" an.

Allein die ästhetische Umsetzung der theoretischen Postulate erweist sich für Brinkmann als unrealisierbar. Stattdessen verselbständigen sich die Notizen und nehmen eine eigenständige Prosa-Form an, so daß aus diesen nach dem Tod des Autors mit gutem Recht die drei Bände Erkundungen, Rom, Blicke und Schnitte zusammengestellt werden konnten.

Brinkmanns Ringen um Form und Inhalt der neuen Literatur, das sich in Collage-Bänden niederschlägt, ist allerdings alles andere als die gutwillige Auseinandersetzung mit der beschworenen "Neuen Sensibilität" amerikanischer Machart. Als Dokumente einer jähen Abwendung zeichnen diese Text-Bild-Sammlungen ein Szenarium des Schreckens, des Verfalls, der Ernüchterung und der traurigen Ausweglosigkeit aus einer gegenwärtigen Kultur, in der Hoffnungen zu Wunschträumen und reelle Möglichkeiten zu Utopien verkommen sind. Das "Material" der Gegenwart, dem sich Brinkmann voller Enthusiasmus zugewandt hatte, bietet tatsächlich keinen Anlaß mehr für euphorische Appelle zur Erweiterung des Bewußtseins oder zur Befreiung des Körpers. Ganz im Gegenteil! Erneut muß er Anlauf nehmen, um sich nun in einem zweiten Schritt wiederum von der vermeintlich befreienden Welt der Bilder zu befreien.

In einem ersten Entwurf zu der vorliegenden Arbeit hatte ich eine Gliederung in zwei Hauptteile vorgesehen. Anhand der wesentlichen Aspekte des Brinkmannschen Gedankenuniversums wollte ich die Entwicklung von der Euphorie der Essays hin zur Resignation der Collage-Bände darstellen. Teil eins sollte sich der positiven Wahrnehmung der Umwelt im Lichte der Essays widmen, Teil zwei ihrer Umkehrung in eine destruktive, ja hassende Sicht. Bei einer erneuten, tiefergehenden Beschäftigung stellte sich dieser Ansatz als problematisch heraus. Es wurde einerseits deutlich, daß Brinkmanns Zynismus jederzeit schon ausgeprägt war, das heißt, der Aufruf zu einer verstärkten Detailwahrnehmung zur Steigerung der Sensibilität stand bereits Ende der 60er Jahre unter kritischen Vorzeichen. Andererseits hält er dennoch am Glauben an das Befreiungspotential früherer Optionen fest, so daß die Bände in weiten Bereichen als Anachronismus in bezug auf seine eigene Logik erscheinen. Dieser Zwiespalt macht einen wesentlichen Teil der Energie jener "reifen" Werke aus.

Mit dieser Erkenntnis stellte sich das 'und' in meinem Titel nicht mehr als ein Widerspruch dar, sondern als eine abstoßend anziehende Verknüpfung alter und neuer Postulate. Daher erschien es mir sinnvoll, den Widerstreit und die Entwicklung der Ansichten Brinkmanns jeweils innerhalb der entsprechenden Kapitel zu behandeln. Der Sinnverlust in einer Gegenwart, die gerade an einer Bedeutungsüberflutung krankt, die Suche nach dem eigenen Körper in einer mit Körper-Material überfüllten Welt, seine atemlosen Sprachkaskaden, die ausgerechnet den Wunsch nach Sprachlosigkeit in einer Zeit formulieren, da ohnehin zu viel gesagt und gedacht wird, die exzessive Bildanhäufung neben der Kampfansage an Bilder als Teil einer Ersatzwirklichkeit, schließlich die verachtend pornographische und gewaltstrotzende Darstellungsweise bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Zärtlichkeit in dieser pornographischen Bilder-Realität - all diese Existenzkampfmanöver kennzeichnen einen Schizophrenen, der mit aller Kraft Halt in seiner schizophrenen Umwelt sucht.

Wirft Brinkmann zwar viele seiner einstigen Ansätze nicht über Bord (selbst wenn er es behauptet), so versucht er doch mindestens, sie seinen Distanzierungsstrategien anzupassen. Sie zielen mithin nicht mehr auf die Faktizität der postmodernen Gesellschaft mit ihrer Konsum- und Werbekultur ab, sondern wenden sich einem U-topos zu, dem Ort, der eben (noch) nicht wirklich ist.

Die Vision des Aufbruchs der Endsechziger, eine Utopie könne, wie niemals zuvor, bereits in der Gegenwart ansetzen und realisiert werden, hat sich als trügerisch herausgestellt. Um so mehr kristallisiert sie sich jetzt für Brinkmann heraus aus einer "gespenstischen Gegenwart", als müsse diese nur negiert werden, um den wünschenswerten Zustand vorstellbar zu machen. Tatsächlich liegt die Sache weit komplizierter. Die Komplexität der Wirklichkeit ist unüberschaubar, gut nicht einfach nur gut, und schlecht nicht einfach nur schlecht. Die Verwobenheit der vermeintlichen Gegensätze ist es, die die Hilflosigkeit der Brinkmannschen Arbeiten ausmacht und ihre Aggressivität heraufbeschwört. Er sucht in dem Konglomerat der massenhaften, zusammenhangslosen Detailwahrnehmungen, Erfahrungen und Verständnisse, nach einem Ganzen, das die diskontinuierliche Gegenwart zusammenhält. Deshalb sammelt er die Puzzelteile auf, versucht sie zu ordnen, zu dechiffrieren und einen verborgenen Sinn aufzuspüren. Zugleich ahnt er jedoch, daß alles nur so ist, wie es ist, denn "zwischen den Zeilen steht nichts geschrieben" (Standphotos S.60). Die Fragen des scheinbar Naiven sind auch die eines Aufklärers, der es eigentlich besser weiß und so lediglich rhetorisch seine eigenen Überlegungen anstößt.

Brinkmanns hartnäckige Suche nach Form und Inhalt seiner neuen Literatur gerät auf großen Umwegen zu einem kulturkritischen Manifest als einer Ansammlung von soziologischen, psychologischen, ethischen sowie rein persönlichen Problemen. Um eine andere Literatur überhaupt zu ermöglichen, muß er zunächst erfassen, was in diesem "Film Realität" schlechterdings abläuft, müssen zum anderen die Bedingungen für das geschaffen werden, was er, schlicht gesagt, unter einer besseren, befreiten Welt versteht.

Diesen Weg vollzieht meine Arbeit in einzelnen Kapiteln nach, welche die wesentlichen Streitpunkte in Brinkmanns Collage-Bänden in ihrer Vielschichtigkeit beleuchten. Dabei hat sich oft meine Neigung durchgesetzt, am Ende da, wo es gerechtfertigt scheint, mit dem Autor einen hoffnungsvollen Weg zu suchen.
Das abschließende Kapitel kommt auf die Ausgangsfrage nach einer anderen Literatur zurück und stellt somit die Essenz aus Brinkmanns Konzept von Schreiben und Leben dar.

Schreiben ist für Brinkmann nicht das Ganze. Aber es ist für ihn die einzige Möglichkeit, der geteilten Gegenwart zu begegnen. Darin liegt vielleicht der Schlüssel zum Verständnis seiner "Unbücher".4 Gerade deshalb muß ich in meiner Besprechung immer auch auf eben dieses vage, wenn auch "zwangsläufig unwahre Ganze"5 zugreifen.

 

1 So formuliert Brinkmann selbst in einem Kommentar zu In der Grube. In: Ein Tag in der Stadt. Sechs Autoren variieren ein Thema. Hg. Dieter Wellershoff. Köln 1962 S.333-334.

2 Ebd. S.333-334.

3 Untertitel der von Brinkmann herausgegebenen Anthologie Acid.

4 Vgl. Thomas Groß: Alltagserkundungen. S.1.

5 Dieter Stolz: "Zuviele Wörter / Zuwenig Leben." S.98, siehe dazu auch seine Fußnote.


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