"Warum irgendwo Halt machen?"

Rolf Dieter Brinkmann zum 60.


Bilder zum taz-Artikel 2000


Er war Liebhaber von Literatur und Werbung, Kino und Kunst, von Fotografie und Film, Rock'n'Roll und kurzen Röcken, Comic und Krimis, Wild West und Science Fiction. All das vielfältige Material floss in seine Werke ein - faszinierend, einerseits. Andererseits aber hat Rolf Dieter Brinkmann, geboren am 16. April 1940, gestorben am 23. April 1975, aus heutiger Sicht vieles eben nur auf Papier gebracht. Im Rückblick erscheint es so, dass Brinkmanns umfassende "sinnliche Präsenz" die aktuellen technischen Publikationswege geradezu gefordert hat. Wie heißt das Zauberwort? Multimedia.

Brinkmann musste auf der Suche nach einer synergetischen Ausdrucksweise mit seinen Arbeiten zumeist noch den Printmedien verhaftet bleiben. Heute stünden ihm mit Internet und CD-ROM vielfältigere mediale Möglichkeiten offen. Dies fordert geradezu die Überlegung heraus, was er damit alles hätte versuchen können, um nicht mehr die von ihm verachteten "alten verfluchten Trampelpfade der Literatur" zu beschreiten.

In der Lyrik baute er zunächst auf die allerdings nicht gerade revolutionäre Bezugnahme zur Fotografie. Er forderte die Wiedergabe des Alltags im sprachbildhaften Standfoto, im "snap-shot". Gerade Brinkmanns Pop-Gedichte der späteren 60er Jahre sind ungekünstelte, alltäglich-bunte Sprachbilder, selbst ab und an mit reizvollen Fotos aus der Bikini-Werbung hinterlegt. In andere Werke hat er ebenfalls eigene oder fremde Fotos aufgenommen - hier ein nackter Hintern, da ein schiefes Grinsen. Sie wirken wie Schnappschüsse, die heute auf jeder zweiten Homepage bzw. Website zu finden sind, vielleicht hätte jetzt Brinkmann ebenfalls eine. Die Art der Bilder könnte bleiben, ihre Verwendung wandelt sich: Zwar leben wir ebenfalls oft "in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts - sie ist leer". Doch streng genommen stimmt das nicht mehr so ganz. Wenn auch vielfach die Bilder nur mehr oder weniger attraktive Oberflächen sind, die verlocken, den Blick anziehen, ohne unbedingt mehr sein zu wollen, so signalisieren sie jedoch ebenso oft "Klick-mich!" und führen dann weiter ins Innere der Site, zu Privatsphäre und/oder Pornografie.

Weiter als in der Bezugnahme zur Fotografie ging Brinkmann mit der von ihm ebenfalls ganz freizügig-postmodern entlehnten Formulierung vom "Film in Worten" (Jack Kerouac). Die Sentenz, zugleich ein Essaytitel, intendiert eine Erweiterung insbesondere der zu gewöhnlichen Prosa. Dies beinhaltet nicht nur filmisches Schreiben im Sinne einer Abfolge von Bildern, sondern steht für ein ganze Palette von Möglichkeiten, Texte zu verändern. Demonstriert wird dies in der Anthologie "Acid". Dieser in Zusammenarbeit mit Ralf Rainer Rygulla im März-Verlag 1969 herausgegebene Band enthält reichlich Texte und Bilder US-amerikanischen Ursprungs. Die Pop- bzw. Beat-Literatur war ein Schlag ins Kontor der etablierten Literaten. Deren Sprache, ihre Inhalte galt es treffend als überholt bloßzustellen, die Leser wurden und werden überfallen von "Sex & Drugs & Rock'n'Roll".

Brinkmann selbst versuchte in seinem Essay, allerdings rein sprachlich, analog dem in der Anthologie demonstrierten "Anwachsen von Bildern" ein Sinnenspektakel zu entfachen. Er benennt u.a. die während des Schreibens gehörten Musiktitel wie den im folgenden Beispiel unverkennbar programmatischen - "Break on through to the other side, The Doors" -, erwähnt ebenso das sonnige Wetter wie die Pop-Art.

Er zieht über die unsinnliche Schreib- und Denkweise von H. M. Enzensberger her und fragt sich, "warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten" haben könnte, sieht die Schmierwurst im offen stehenden Kühlschrank, streift mit Worten Kinofilme von Walt Disney oder Jean Luc Godard.

Eines kommt zum anderen, und wäre es nicht schön, wenn man sich jetzt einklicken könnte und sähe ein Foto von Liz Taylor und/oder das Gemälde Andy Warhols von ihr? Oder man hörte die Musik, deren Titel nur genannt werden können, die Grenze des Mediums Papier ist erreicht. Aber, mit Worten Brinkmanns ausgedrückt: "Warum hier haltmachen? Warum irgendwo haltmachen?" Auf elektronischen Seiten müsste er das heute immer weniger.

Mit CD-ROM und Internet ist neben der Verbindung von Schrift und Bild nun sogar die Verknüpfung mit Ton/Musik und Film/Video in handlicher, individuell handhabbarer Form gegeben - wie hätte Brinkmann reagiert? Jedenfalls könnte man alle Essays Brinkmanns auch jetzt noch in einer Multimedia-Ausgabe im Netz bereitstellen oder auf Silberscheibe pressen. Der "Film in Worten" müsste heute nicht mehr ein Film in Worten für den "inneren Bildschirm", sondern könnte ein Werk voller sichtbarer "Flickerbilder" sein, der Genuss wäre ein anderer. Die erwähnten Dinge, Bilder, Filme etc. wären selbst poppig-bunt präsentierbar, unterlegt mit Musik, mit Geräuschen und Sprache. Verweise könnten als Links tatsächlich ausführlich zu Werken anderer Autoren führen.

Dies ist nicht nur eine gedankliche Spielwiese. Brinkmanns in der Tradition von Dada und Surrealismus geführter antikonventioneller Angriff auf die puristische Prosa der 60er Jahre würde auch heute noch außergewöhnlich wirken, mindestens up-to-date. Und mit der ausgeweiteten sinnlichen Präsenz könnten selbst Brinkmanns Versuche mit 8mm-Filmen per Videostreaming leicht aus der Versenkung hervorgeholt werden, seine Hörspiele jederzeit zugänglich sein, ein Beitrag zur Komplettierung der Werkveröffentlichungen. Wohlgemerkt: Das wäre nicht mehr der Brinkmann der ausgehenden 60er Jahre. Aber der wäre er sowieso nicht mehr, nicht nur angesichts all dieser Möglichkeiten.

Geändert hat er sich selbst schon Anfang der Siebziger, Beat und Pop waren out; aus der aufgepoppten Wut auf das Bestehende wurden zunehmend schneidendere Schreckensbilder. Die Affinität zu Multimedia war jedoch konstant. Zunächst arbeitete er 1972/73 an "Rom, Blicke", bestehend aus Briefen, Postkarten, Fotos und bekritzelten Ausschnitten des Rom-Stadtplans.

Die folgenden Collagebände "Erkundungen" und "Schnitte" sind zunehmend schwerer zu rezipieren, zu entziffern. Während sich "Rom, Blicke" zumindest noch entlang einer Chronologie bewegt, wird zunehmend auch diese Linearität aufgehoben. Die Bild- und Text(ein)schnitte in der Tradition von W. S. Burroughs' cut-up, die Risse bzw. Gedankensprünge transportieren das Komplexe, Chaotische, Zufällige des Alltags, erinnern ans Zappen, ans Klicken durch Links und Fenster. Ständig öffnet sich ein neuer Blick, überlagern sich Eindrücke, Fragmente, schon liest, blickt man weiter, blättert vor, blättert zurück. Brinkmann war klar, was hier passiert: "Merke: du kannst zwar kontrollieren, was du in deine Lebenscollage hineintust, (die meisten sicherlich nicht einmal das), aber du weißt nicht genau, was dabei herauskommt." Denn das hängt ebenso von den Rezipienten ab, denen in Brinkmanns Collagebänden, wie etwa auch im Internet, kein eindeutiger Rezeptionsweg mehr vorgegeben ist.

Darüber hinaus wäre für Brinkmann das Internet ein gangbarer Weg, weil dem Netz jene permanente Verfügbarkeit, Tagesaktualität und nicht zuletzt relativ antikommerzielle Zugriffsmöglichkeit zu Eigen ist, wie er sie sich als Brückenschlag zwischen Literatur und Alltag immer gewünscht hat. Für ihn wäre wohl die mögliche Schnelligkeit und damit Unbedachtheit, Unstilisiertheit ein wesentliches Argument gewesen.

Kollaborationen etwa, wie Brinkmann sie zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla angefertigt hat, wären zu jeder Zeit von verschiedenen Orten aus etwa per E-Mail direkt möglich, "nicht morgen, jetzt, jetzt, heute". Und was hielt Brinkmann von der zunehmenden Technisierung? "Themen, Vorstellungen, Arbeitsmethoden verweisen direkt oder indirekt auf die elektrifizierte, durch Elektronik veränderte Großzivilisation hin. ... Die Verwendung technischer Apparate kann ebenso zur Steigerung des Einzelnen dienen, zum Vollzug unkanalisierter, spontan schöpferischer Produktivität ... zwei Fernsehapparate aufeinandergestellt, sie sind angeschaltet und verschiedene Bilder laufen gleichzeitig ab, doch der Ton ist zurückgedreht, aus den zwei Verstärkern des Schallplattengeräts daneben kommt Musik." Fast die Geburtsstunde der Windows-Technik.

Olaf Selg

taz Nr. 6120 vom 15.04.2000 / Seite 13 / Kultur / 278 Zeilen


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